Günther Anders (* 12. Juli 1902 als Günther Siegmund Stern in Breslau; † 17. Dezember 1992 in Wien) war ein österreichischer Philosoph, Dichter und Schriftsteller.

Anders beschäftigte sich mit den technischen und ethischen Herausforderungen seiner Zeit. Sein Hauptthema war die Zerstörung der Humanität. Er war Mitbegründer und führende Persönlichkeit der Antiatombewegung, dezidierter Technikkritiker und Medienphilosoph. Er ist auch als Verfasser von Erzählungen und Gedichten hervorgetreten. Von 1929 bis 1937 war er mit der politischen Philosophin Hannah Arendt verheiratet. Ungeachtet seiner Distanzierung von der wissenschaftlichen Hochschulphilosophie wird Anders an Universitäten als Forschungsgegenstand wahrgenommen, dies zeigt die Liste der Diplomarbeiten und Dissertationen über ihn.

Günther Sterns Eltern waren die jüdisch-deutschen Psychologen William Stern und Clara Stern. In ihrem Standardwerk Psychologie der frühen Kindheit finden sich viele Beobachtungen über Günther und seine Geschwister. 1915 zog die Familie von Breslau nach Hamburg. Als 15-Jähriger erlebte Günther Stern die erste prägende Zäsur seines Lebens, als er während einer Einsatzfahrt mit Gleichaltrigen nach Frankreich auf dem Weg verstümmelte Soldaten des Ersten Weltkrieges sah:

„Unterwegs, auf einem Bahnhof, wohl in Lüttich, sah ich eine Reihe von Männern, die sonderbarerweise an den Hüften anfingen. Das waren Soldaten, die man auf ihre Stümpfe gestellt und an die Wand gelehnt hatte. So warteten sie auf den Zug in die Heimat.“[1]

Dieses Erlebnis und die ersten Erfahrungen mit Antisemitismus (Anders wurde von nationalistischen Mitschülern gemobbt) führten zu Günther Sterns Wandlung zum Pazifisten, Moralisten und Befürworter des Völkerbundes. Schon 1917 gründete er mit zwei Jugendfreunden Europa Unita, den Bund für ein vereinigtes Europa ohne Grenzen:

„Bei Kerzenlicht übermalten wir auf einer Karte von Europa mit weißer Farbe die Grenzen und schnitten uns E. U. in die Handflächen. Wir bluteten wie die Schweine und rannten zur Krankenschwester, einer Elsässerin. Die verstand sofort und wurde das dritte Mitglied. Durch dieses Erlebnis wurde ich zum Moralisten gemacht.“[1]

Stern studierte Philosophie bei Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Edmund Husserl. Er promovierte 1923 bei Husserl an der Universität Freiburg über Phänomenologie. Ein Habilitationsversuch 1929 an der Universität Frankfurt bei Paul Tillich mit der Schrift Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen scheiterte am Einspruch Theodor W. Adornos. Nach dem Studium lebte Anders einige Jahre von philosophisch-essayistischen Vorträgen, journalistischer und belletristischer Arbeit für Fachzeitschriften, Radiosender und Zeitungen von Paris bis Berlin.

Günther Stern lernte Hannah Arendt 1925 als Philosophie-Studentin in Marburg kennen, und beide zogen in Berlin im Jahr 1929 schon vor ihrer Heirat zusammen. Ihre Ehe währte bis 1937, und Arendt hieß in dieser Zeit Stern. Nach einem kurzen Aufenthalt in Heidelberg lebte das Ehepaar ein Jahr in Frankfurt. Stern arbeitete in dieser Zeit vor allem an einer systematischen philosophischen Anthropologie. Es gelang ihm zunächst bei Max Wertheimer, Paul Tillich und Karl Mannheim Interesse an seiner Habilitation zur Philosophie der Musik zu wecken. Als Adorno wegen einer vermeintlichen Heidegger-Nähe von Anders und aus qualitativen Gründen heftigen Einspruch gegen dessen Arbeit erhob und die Habilitation bei Tillich in Frankfurt gescheitert war, zog das Ehepaar wieder nach Berlin. 1979, im Gespräch mit Mathias Greffrath, berichtete Anders, dass er 1930 von den Wissenschaftlern vertröstet worden sei: „Jetzt kommen erst einmal die Nazis dran für ein Jahr oder so. Wenn die dann abgewirtschaftet haben, werden wir Sie habilitieren.“

Beim Berliner Börsen-Courier schrieb Stern derart viele Beiträge, dass der Chef des Feuilletons, Herbert Ihering, um nicht die Hälfte aller Artikel unter einem einzigen Namen zu veröffentlichen, dem Verfasser vorschlug, ein Pseudonym zu benutzen. Günther Stern wählte den Namen Günther Anders. Diesen Namen nutzte er später für seine Veröffentlichungen ausschließlich.

Günther Anders nahm die Ankündigungen und Anfänge der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ernst und emigrierte kurz nach dem Reichstagsbrand im März 1933 für drei Jahre nach Paris. Die Machtergreifung Hitlers und die Meldung über die Einrichtung von Konzentrationslagern nennt Anders die zweite große Zäsur seines Lebens, die ihn zum ausgeprägt politischen Intellektuellen und Schriftsteller machte.

Hannah Arendt, die ihm kurze Zeit später ins Exil nach Paris folgte, brachte ihm das Typoskript seines Romans Die molussische Katakombe nach Paris mit. „Inhalt des Buches war die Mechanik des Nationalsozialismus“; seinen Rahmen bildet die Situation zweier Häftlinge in finsterem Verlies, deren älterer dem jüngeren die Überlieferung des Widerstandes der Paria gegen die totalitäre Herrschaft erzählt. Der Versuch, das Buch im einzigen dafür in Frage kommenden deutschsprachigen Verlag in Paris zu veröffentlichen, scheiterte, nach Anders’ Darstellung, an dem gleichfalls aus Berlin geflüchteten Lektor Manès Sperber, damals ein Partei-Kommunist, der es, so behauptete später Anders, mit der Frage „Und das halten Sie für linientreu?“ ablehnte.[2] Auch die im Frühjahr 1933 in Paris entstandene Novelle Learsi über die Außenseitersituation der deutschen Juden wurde nicht verlegt.[3] Allein der Vortragstext Pathologie de la liberté (Pathologie der Freiheit) erschien in zwei Teilen 1935/36 in der Fachzeitschrift Recherches Philosophiques. Jean-Paul Sartre sagte dazu, der Text habe Einfluss auf die Entstehung des Existentialismus gehabt.[4]

Ein Großcousin von Günther Anders, Walter Benjamin, wurde von Hannah Arendt unterstützt, als er ebenfalls 1933 nach Paris ins Exil ging und dort fast mittellos war; zwischen ihnen ist ein reger Briefwechsel überliefert.

Während Arendt durch ihre Arbeit für zionistische Flüchtlingsorganisationen Geld verdiente, konnte Anders im Pariser Exil kaum etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen. Unter anderem wegen der wirtschaftlich und menschlich schweren Bedingungen des gemeinsamen Lebens im Quartier Latin zerbrach die Ehe schließlich. Schon vor der Scheidung 1937 hatte Arendt ihren späteren zweiten Ehemann Heinrich Blücher kennen gelernt.

Aus Sorge vor dem sich anbahnenden neuen Weltkrieg reiste Günther Anders 1936 weiter nach New York. Anders’ Vater, der Professor in North Carolina geworden war, unterstützte ihn in der ersten Zeit. Anders bekam Schwierigkeiten mit der US-Bürokratie, die ihn bereits vor der McCarthy-Ära als Linken verdächtigte. Die Einbürgerungspapiere erhielt er erst nach vielen Jahren.

Vielerlei Gelegenheitsarbeiten prägten die folgenden vierzehn Jahre im amerikanischen Exil. Er schrieb allerdings auch Artikel für die deutschsprachige jüdische Zeitschrift Aufbau und veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten in der Austro-American Tribune. Günther Anders war Hauslehrer bei Irving Berlin, versuchte sich mehrfach erfolglos als Drehbuchautor in Hollywood, war in einem Museum angestellt, arbeitete zeitweise im Kostüm-Fundus eines Filmateliers und in Fabriken in Los Angeles. Über seine Schilderungen in den Tagebüchern hinaus hat er die Erfahrungen dieser Zeit in sein Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen einfließen lassen.

Um eine Stelle beim damaligen Office for War Information (OWI) anzutreten, kehrte er aus Kalifornien nach New York zurück. Diese Regierungsbehörde stellte Informationen in vielen Sprachen zusammen, die in dem von den Nationalsozialisten besetzten Europa über Rundfunk verbreitet wurden. Nach mehreren Monaten stellte Anders seine Tätigkeit mit der Begründung ein, er sei nicht vor dem Faschismus geflohen, um nun amerikanische faschistische Broschüren für Deutschland herzustellen.[5]

Schließlich bekam Anders doch noch eine akademische Anstellung als Dozent (Lecturer). An der New Yorker New School for Social Research hielt er Vorlesungen zur Philosophie der Kunst. Seine Vortrags- und Seminarreihe umfasste Interpretationen von Rembrandts Gemälde Segen Jakobs ebenso wie Analysen von Liedern Franz Schuberts. Die Studenten mit ihrer ständigen Belastung durch Prüfungen waren durch die Breite von Anders’ Vorlesungen überfordert. Günther Anders sah in den studentischen Problemen eine Störung der Spontaneität durch die in den 1940er Jahren übliche psychoanalytisch geprägte Ausdrucksweise.

Der Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 markierte den dritten Wendepunkt in Anders’ Leben. Er habe als Schriftsteller jahrelang nicht darauf reagieren können, weil seine Seele und sein Körper streikten, während er intellektuell verstanden habe, dass es nun möglich sei, das gesamte Leben auf der Erde auszulöschen.[5] Erst nachdem er 1950 dauerhaft nach Europa zurückgekehrt war, gelang ihm eine Darstellung des Ereignisses im Kapitel Über die Ursachen unserer Apokalypseblindheit im ersten Band von Die Antiquiertheit des Menschen.

Anders war zusammen mit Robert Jungk einer der maßgeblichen Initiatoren der internationalen Bewegung gegen Kernwaffen und fuhr 1958 zum Jahrestag der Abwürfe nach Hiroshima und Nagasaki. Seine Erlebnisse und Gedanken dort schilderte er in seinem 1959 veröffentlichten Essay Der Mann auf der Brücke. Der Schriftsteller begann 1959, durch einen Artikel in Newsweek angeregt, einen Briefwechsel mit dem ehemaligen Luftwaffenpiloten Claude Eatherly, der die Wetterbedingungen über Hiroshima erkundet hatte und sich so als Mitverantwortlicher schuldig und von den Tausenden von Toten verfolgt fühlte und zwei Suizidversuche unternommen hatte. Anders nahm die Schuldgefühle Eatherlys ernst und reagierte ungehalten auf ein kritisches Buch des Journalisten William Bradford Huie.[6]

Von 1945 bis 1955 war Anders mit der österreichischen Schriftstellerin Elisabeth Freundlich verheiratet, die er als Redakteurin des Feuilletons der Austro-American Tribune in New York kennengelernt hatte. Mit ihr kehrte er 1950 in ihre Heimatstadt Wien zurück. Sie wohnten zuerst bei den Eltern der Brüder Christian und Engelbert Broda. Durch Vermittlung Christians erhielten sie rasch die österreichische Staatsbürgerschaft (im Falle von Elisabeth Freundlich: zurück).

In dritter Ehe heiratete er 1957 die amerikanisch-jüdische Konzertpianistin Charlotte Zelka (eigentlich: Zelkowitz), die 1972 die Lebensgemeinschaft damit beendete, dass sie von einer Besuchsreise zu ihrer Familie nicht mehr aus den USA zu ihm zurückkehrte und ihm das auch mitteilte. Die Ehe wurde nicht geschieden. Der Kontakt zu Anders beschränkte sich nach der Trennung auf Briefe, Telefonate und gelegentliche Besuche, auch bei Elisabeth Freundlich, zu deren Gunsten sie eine notarielle Verzichtserklärung auf die künftige Hinterlassenschaft von Günther Anders hinterlegte.

In den späten 1980er Jahren wohnte der Schriftsteller, behindert durch eine schmerzhafte Polyarthrose, wieder bei Freundlich und führte mit der nahezu Erblindeten einen gemeinsamen Haushalt.

Günther Anders lebte ab 1950 dauerhaft in Wien, da ihm weder die Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauers noch Walter Ulbrichts DDR zusagten. Die ihm von Ernst Bloch angetragene Professur für Philosophie an der Universität Halle schlug er aus, da er schon seit Freiburger Tagen unter Allergie gegen stereotype philosophische Schulausdrücke litt[5]. Er zog es vor, als freiberuflicher Schriftsteller zu arbeiten, für den Rundfunk zu schreiben und Theaterstücke zu übersetzen.

Sein Buch Kafka pro und kontra, das 1951 bei C. H. Beck erschien,[7] öffnete Anders die Tür u.a. zur Münchener Zeitschrift Merkur, deren Herausgeber Hans Paeschke mehrere Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen vorabdruckte. Einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin schlug Günther Anders 1959 aus. 1961 bzw. 1962 veröffentlichte er Bücher über George Grosz und Bertolt Brecht, die er beide in seiner Berliner Zeit und im Exil persönlich kennengelernt hatte.

In dem 1964 erschienenen Wir Eichmannsöhne setzte sich Anders mit dem Holocaust auseinander. 1967 war er an Bertrand Russells Tribunal gegen Kriegsverbrechen (Russell-Tribunal) als Juror beteiligt. Sein essayistisches Werk Visit beautiful Vietnam[8] kritisierte den Vietnamkrieg im Geiste der 68er-Bewegung.

Technikkritik übte Anders in einigen Werken seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte: Der Blick vom Mond über die erste Mondlandung, Endzeit und Zeitenende über die Atombombe und schließlich der zweite Band seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen sind Beispiele dafür. Das erste Buch enthält neben einer Einleitung über die drei industriellen Revolutionen insgesamt 25 Essays zur zeitgenössischen Technik und Wissenschaft und zu Definitionen und Aspekten von Humanität. Die Essays verbindet die Frage, inwieweit der Begriff Antiquiertheit auf bislang gültige Begriffe und Vorstellungen angewendet werden kann.

Mit seinen jüdischen Wurzeln und der Geschichte des Judentums beschäftigte sich Anders in einem Kapitel des Sammelbands Mein Judentum und den Bänden Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966 und Holocaust 1979. In den Ketzereien schilderte Anders Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Vertretern von Religionen und Weltanschauungen. 1982 verließ er die Israelitische Kultusgemeinde Wien aus Protest gegen den israelischen Libanon-Feldzug.

1985 lehnte Anders den Andreas-Gryphius-Preis aus politischen Gründen ab, ebenso wie 1992 die Ehrendoktorwürde der Universität Wien. Seine Haltung zur Gewaltfrage – Anders fragte, ob Attentate auf Betreiber von Atomkraftwerken legitim seien – löste intensive Diskussionen aus. Der in den 1930er Jahren aus einzelnen Geschichten kompilierte Roman Die molussische Katakombe kam erst in seinem Todesjahr 1992 in die Buchläden. In dem Roman setzte sich der Autor mit den psychologischen Mechanismen auseinander, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatten.

Anders starb am 17. Dezember 1992 in Wien und wurde in einem ehrenhalber gewidmeten Grab auf dem Hernalser Friedhof (Gruppe U2, Nummer 2) in Wien beigesetzt. Sein Nachlassverwalter ist Gerhard Oberschlick.

Anders nimmt an, dass einzelne Phänomene Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftliche Situation zulassen, so z.B. das Fernsehen oder die Atombombe. Im Unterschied zu Edmund Husserl führt er eine Zeitdimension der Phänomene an, die zeigen soll, dass sich ihr Wesen im Laufe der Zeit verändere.

Er geht davon aus, dass dem Menschen eine strukturale historische Wandelbarkeit und eine ontologische Differenz zur Welt eigen sei. Die Identität des Menschen sei also nicht ein für allemal festgelegt (negative Anthropologie), was die Voraussetzung für positive Freiheit und für die Schaffung einer unwandelbaren eigenen Welt bzw. Umwelt, Wissenschaft, Kunst etc. sei.