Kurt Goldstein (* 6. November 1878 in Kattowitz; † 19. September 1965 in New York), war ein deutscher, später US-amerikanischer Neurologe und Psychiater. Er gilt als Pionier der Neuropsychologie und der Psychosomatik.[1]

Kurt Goldstein wurde als siebtes von neun Kindern einer jüdischen Familie in Kattowitz, damaliges Oberschlesien geboren. Sein Vater war Abraham Goldstein (1836–1902), seine Mutter Rosalie Cassirer (1845–1911). Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Breslau studierte er zuerst Philosophie und Literatur in Heidelberg. Ein Jahr später brach er das Studium ab und kehrte nach Breslau zurück, wo er Medizin u.a. bei Carl Wernicke studierte und sich mit der Neuroanatomie (Aufbau des Nervensystems) im Laboratorium des pathologischen Institut befasste. 1903 erschien seine erste Veröffentlichung in „Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns“ und Kurt Goldstein erhielt den Doktortitel für die Arbeit „Die Zusammensetzung der Hinterstränge“ (Nervenbahnen, die vom Rückenmark ins Gehirn laufen). In selbem Jahr verließ er Breslau und fuhr nach Frankfurt am Main.

1905 heiratete er Ida Zuckermann und hatte mit ihr drei Töchter. 1935 heiratete er Eva Rothmann. Aus dieser zweiten Ehe gingen zwei Kinder hervor.

Von 1906 bis 1914 arbeitete er in der psychiatrischen Klinik von Königsberg. Hier lernte er die später als Psychoanalytikerin bekannt gewordenen Frieda Fromm-Reichmann kennen, die ihm anschließend nach Frankfurt folgte.[2] 1914 erhielt Goldstein eine Einladung von Ludwig Edinger und wurde Vorsteher der neuropathologischen Abteilung am Senckenbergischen Neurologischen Institut in Frankfurt am Main. Während des Ersten Weltkriegs, im Jahre 1916, baute er dort gemeinsam mit Adhémar Gelb das Institut für die Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen als Klinik für hirngeschädigte Soldaten auf, das er bis 1930 leitete. 1923 wurde er als Nachfolger von Ludwig Edinger zum Ordinarius für Neurologie an der Frankfurter Universität ernannt. Goldstein befasste sich mit den grundlegenden Fragen der Biologie, inklusive Psychologie und arbeitete eng mit dem Gestaltpsychologen Gelb zusammen.

Über Fritz Perls, der 1926 für ein Jahr als Assistenzarzt bei Goldstein arbeitete, und Perls' spätere Ehefrau Lore Posner, die bei Gelb in Gestaltpsychologie promovierte, wurden Goldsteins Forschungsarbeiten zu einem grundlegenden Bestandteil der Gestalttherapie. Perls und Posner hatten sich auf einer gemeinsamen Lehrveranstaltung von Goldstein und Gelb kennengelernt.[3]

Weil ihm – bei knappen städtischen Mitteln und der Bevorzugung eines anderen Hochschullehrers (des Neurologen und Psychiaters Karl Kleist) – die Einrichtung einer eigenen Bettenabteilung verwehrt wurde, wechselte Goldstein 1930 nach Berlin, wo er eine neu eröffnete neurologische Abteilung am Berliner Krankenhaus Moabit übernehmen konnte.

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde Goldstein durch Mitglieder der SA festgenommen, im SA-Gefängnis Papestraße misshandelt und zur Emigration gezwungen. Er floh mit dem Zug nach Zürich und nach kurzem Aufenthalt weiter nach Amsterdam. Die Rockefeller Foundation unterstützte ihn ein Jahr lang in Amsterdam, wo er sein Hauptwerk Der Aufbau des Organismus schrieb, das 1934 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, aber erst 1939 in Englisch erschien.

1935 emigrierte Goldstein in die USA. Ab 1936 arbeitete er als Klinischer Professor für Neurologie an der Columbia, New York, ohne Gehalt und in den Jahren 1940–1945 als Klinischer Professor für Neurologie in der Tufts College Medical School, Boston. Bis zu seinem Tod lebte und arbeitete Goldstein in den USA, auch an der Harvard University, und nahm 1940 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an.

Am 19. September 1965 verstarb Kurt Goldstein im Alter von 86 Jahren, drei Wochen nach einem Schlaganfall.

Sein Hauptwerk trägt den Titel Der Aufbau des Organismus (1934). Sein Lebenswerk war seit seinen frühen gemeinsamen Forschungsarbeiten in Frankfurt und Berlin mit dem Gestaltpsychologen Adhémar Gelb und der Mit-Herausgeberschaft der Psychologischen Forschung (zusammen mit Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka) eng mit der Gestaltpsychologie beziehungsweise der Gestalttheorie verbunden. Goldstein gehörte zu den Begründern der Humanistischen Psychologie, war Mitherausgeber des Journal of Humanistic Psychology.

Geschult in philosophischer Klarheit (durch Studium und Diskussionen mit seinem Cousin Ernst Cassirer) war Goldstein aufgrund seiner spektakulären Heilungserfolge bei seinen hirnverletzten Patienten ein früher Kritiker eines ausschließlich an topographischen Hirnkarten orientierten Verständnisses von Hirnfunktion und räumlich starr lokalisierter Funktionszentren (z.B. Sprachzentrum): In den Symptomen der behandelten Hirnverletzten sah er nicht (wie üblich) pathologische Ausfälle, sondern er interpretierte sie auch als Versuch des Gesamtorganismus, bei läsionsbedingt reduzierter Gehirnleistung eine neue Balance zu finden. Aufgrund seiner Annahme, dass der Ort einer Gehirnläsion nicht identisch mit dem Ort der Hirnfunktion ist, ergeben sich völlig neue Ansätze zur psychologischen Analyse und zur Behandlung hirnverletzter Menschen. Letztlich haben sie zur Begründung der Neuropsychologie als einer neuen wissenschaftlichen Disziplin einen entscheidenden Beitrag geleistet. Die Aktualität des ganzheitlichen Ansatzes von Goldstein wird auch durch die kürzliche Neuauflage seines Hauptwerks in englischer Sprache mit einer Einleitung von Oliver Sacks dokumentiert.

In seinem Hauptwerk forderte Goldstein eine ganzheitliche Methode der Erforschung der Lebensvorgänge und wandte sie selbst auf den Organismus an. Dabei bildeten u. a. das sogenannte organismische Gleichgewicht und die Kritik der behavioristischen Reflexbogentheorie (des einfachen Reiz-Reaktions-Musters), die Schwerpunkte seiner Arbeit. Er stellte fest: „Eine genauere Beobachtung lehrt, dass die auf einen Reiz erfolgende Reaktion nicht nur variieren kann, sondern dass der Vorgang sich nie in der isolierten Reaktion erschöpft, dass vielmehr immer in verschiedener Weise weitere Gebiete, ja der ganze Organismus an der Reaktion beteiligt sind.“[4] Über die organismische Selbstregulation des Organismus in der Auseinandersetzung mit der Umwelt sagte er u.a.: Für den Organismus besteht die Notwendigkeit, dass "jede, durch die Umweltreize gesetzte Veränderung des Organismus in einer bestimmten Zeit sich wieder ausgleicht, so dass der Organismus wieder in jenen 'mittleren' Zustand der Erregung, der seinem Wesen entspricht, diesem 'adäquat' ist, zurückgelangt.“[5] Von besonderer Bedeutung ist hier, dass Goldstein den Ausgleich nicht als Rückkehr zu einem "Nullpunkt", also zu einem Gleichgewicht in Form einer "Entspannung", versteht, sondern von einem "mittleren" Erregungszustand als "Normal"zustand ausgeht.

Goldstein beteiligte sich im Exil aber auch an der durch Max Horkheimer und Erich Fromm initiierten multidisziplinären Erforschung des Autoritären Charakters.