Joachim Karsch
zeigte schon früh künstlerische
Begabung und bezog, obwohl als Kind
Vollwaise geworden und unter
schwierigen Bedingungen aufgewachsen,
mit 14 Jahren die Breslauer
Kunstgewerbeschule. Als 18jähriger
ging er nach Berlin und studierte
zunächst auf der dortigen
Kunstgewerbeschule, dann an der
Kunstakademie unter Peter Breuer. Über
diese Lehrjahre urteilte er später:
"Als Siebzehnjähriger merkte ich, daß
ich Talent habe, als Achtzehnjähriger
glaubte ich und man sagte mir, ich sei
eine Frühbegabung ...".
Ein körperliches Handicap, sein
verkürzter Arm, bewahrte Karsch
während des Ersten Weltkriegs vor
einem Fronteinsatz. Er leistete als
Landarbeiter zwei Jahre lang
Zivildienst auf einem schlesischen Gut
und konnte dabei seine künstlerische
Arbeit wenigstens teilweise
fortführen. 1919 beteiligte er sich an
der Berliner Akademieausstellung und
erhielt für seine Figur Hiob
den Staatspreis für Bildhauerei. Einen
damit verbundenen Aufenthalt in der
Villa Massimo in Rom nahm er vorerst
nicht wahr, sondern beendete sein
Studium. Die im März 1920
veranstaltete Ausstellung bei H. Goltz
in München brachte gute Kritiken und
einen Katalog, doch trotz der hohen
Auszeichnung sah Karsch sich
gezwungen, als Fabrikarbeiter bei
Schering und AEG seinen
Lebensunterhalt zu verdienen.
1924 heiratete Joachim Karsch und zog
sich mit seiner Frau Meta nach
Oberhannsdorf ins Glatzer Bergland
zurück. In einer Krise zerstörte er
den größten Teil seines Oeuvres. Er
mißtraute den allzu expressiven Formen
und der Zergliederung der Oberfläche
in Grate und Kanten, wie sie etwa am
Porträt Wikulow (1918) zu
beobachten ist. Er suchte nach einer
allgemeingültigen Form und nach einem
beseelten Ausdruck nicht nur des
Kopfes, sondern auch des Körpers. Die
Einzelfiguren und Gruppen, die er nun
schuf, sind nicht leicht zugänglich,
nicht schön, nicht klassisch und
entsprachen immer weniger dem
aufkommenden Schönheitsideal des
"Dritten Reiches". Sie sind
ausdrucksstark in den Köpfen und
Gesichtern, in den Bewegungen der
schmächtigen Körper, der Glieder und
der großen Hände. Karsch bevorzugte
beim Akt noch nicht ganz erwachsene
Mädchen und Knaben oder Gewandfiguren,
die durchaus modern gekleidet sein
können. Oft bildete er Gruppen, die
durch die Verschränkung der Leiber
beeindruckende plastische Qualität
erlangen. Karschs Plastiken sind nicht
Abbilder, sondern, wie er selbst
schreibt: "Vision- nicht Realität,
aber Vision, die aus der Natur
gespeist wird." Er war "besessen, das
Leben aufzustöbern in seinen
verborgensten Winkeln... Das Leben
dort zu packen, wo wir es allgemein
nur in seiner leichtesten
Äußerlichkeit kennen... gerade an
dieser Stelle den Tiefbohrer
anzusetzen." Joachim Karsch war ein
harter Arbeiter und kritischer
Künstler.
1928 ging er wieder nach Berlin. Die
Galerie Neumann-Nierendorf übernahm
seine Alleinvertretung. 1931 erfolgte
eine erste Ausstellung seiner Arbeiten
in dieser Galerie. Karsch ließ sich
scheiden und begann zu reisen: nach
Südfrankreich, nach Paris. 1932 nahm
er sein Villa-Massimo-Stipendium in
Rom wahr. 1931 kaufte das Museum in
Hannover das Große stehende Mädchen
und 1932 erwarb die Berliner
Nationalgalerie das Bildnis Bep,
1934 wurde Karsch Preisträger beim "Folkwang-Wettbewerb".
Seine fast meterhohe Sitzfigurengruppe
aus Holz, Lesendes Paar, wurde
im Folkwangmuseum Essen aufgestellt.
1935 begegnete Karsch bei einem
Ostseeaufenthalt Gerhard Marcks und
tauschte mit ihm Zeichnungen aus.
"Barlach, Lehmbruck, Marcks,
Kokoschka, Hofer - das war echte
Kunst", bekannte er 1939. Dies aber
waren Künstler, die mit dem Verdikt
"entartet" versehen worden waren. Auch
Karschs Ausstellungsmöglichkeiten
wurden drastisch beschnitten. Er, der
inzwischen wieder geheiratet, hatte,
versuchte durch Prospektentwürfe für
Verlage und durch Unterricht im
Aktzeichnen an der Berliner Textil-
und Modeschule das nötige Geld zu
verdienen. So eindrucksvolle Köpfe wie
Späte Stunde, bei denen er an
seine expressiven Arbeiten anknüpfte,
oder Klotho und Matthias,
mit denen er sich eher dem
Klassizismus näherte und dennoch seine
eigene Handschrift nicht verleugnete,
entstanden. Die ausdruckstarken
Jünger - Gruppen scheinen sich an
den Lettner-Figuren von Bamberg zu
orientieren in ihrer strengen
plastischen Durcharbeitung und innigen
Beseeltheit. Die Kleine
Schwesterngruppe macht deutlich,
daß Karsch seine Plastiken bewußt
baute und bis ins letzte Detail formal
gestaltete.
1938 wurde die Plastik Lesendes
Paar als entartet beschlagnahmt,
andere Werke wurden aus den Museen
entfernt. 1942 erhielt Joachim Karsch
den Auftrag, für den Friedhof in
Gotenhafen (Gdingen) zwei
überlebensgroße Figuren zu schaffen.
Er gab seine Lehrtätigkeit in Berlin
auf und zog - nach Gandern bei
Frankfurt a.O. 1943 wurde sein
Berliner Atelier mit allen dort
befindlichen Arbeiten - Plastiken,
Modellen und Zeichnungen - durch
Bomben zerstört. Sieben Plastiken in
den Räumen des Verbandes Bildender
Künstler (VBK) in Berlin fielen
ebenfalls den Bomben zum Opfer.
Karschs Herzleiden verschlimmerte sich
zunehmend. Dennoch arbeitete er an den
Plastiken für Gotenhafen weiter,
schrieb und nahm noch einen
Zusatzauftrag für Gotenhafen an.
Im Februar 1945 erreichte die
russische Front Gandern. Joachim
Karsch wollte sich nicht von seinen
ihm noch verbliebenen Werken trennen
und lehnte eine Flucht ab. Er mußte
zusehen, wie seine Plastiken
zerschlagen, seine Zeichnungen
zerrissen wurden. Krank, stand er als
48jähriger vor den Trümmern seines
Lebenswerkes. Er wählte gemeinsam mit
seiner Frau Liesbeth den Freitod, um
der drohenden Verschleppung nach Osten
zu entgehen.
Die Bruchstücke des beeindruckenden
Oeuvres von Joachim Karsch wurden nach
dem Krieg von seinem Sohn aus erster
Ehe, Florian Karsch, aufgespürt und
zusammengetragen. 1948 erschienen
seine Briefe aus den Jahren 1933 bis
1945, die Aufschluß geben über seine
künstlerische Gesinnung. 1953 fand
eine erste Wanderausstellung seiner
Arbeiten statt, denen weitere folgten.
Werke von Joachim Karsch befinden sich
vor allem in Privatbesitz und in den
Museen von Heilbronn und Regensburg.
Ausstellungen: 1919: Berliner
Akademie. - 1920: Galerie H. Goltz,
München, mit Katalog. - Berliner Freie
Sezession - 1931: Galerie
Neumann-Nierendorf, Berlin. - 1951:
Kestner-Gesellschaft, Hannover, mit
Katalog. - 1953: Kunstverein, Köln,
mit Katalog. - Kunsthalle Bremen, mit
Katalog. - 1954: Märkisches Museum,
Witten, mit Katalog. - 1965: Galerie
Nierendorf, Berlin, mit Katalog. -
1967: Wilhelm-Lehmbruck-Museum,
Düsseldorf, mit Katalog. - Museum der
Stadt Regensburg, mit Katalog. -
Mannheimer Kunstverein, mit Katalog. -
1974: Haus der Ostdeutschen Heimat,
Berlin, mit Katalog. - 1977: Galerie
Nierendorf, Berlin, mit Katalog. -
1978: Historisches Museum Heilbronn,
mit Katalog. - 1988: Galerie
Nierendorf, Berlin.
Lit.: Die Kataloge enthalten
wichtige Stellungnahmen,
Werkverzeichnisse, Literaturangaben,
Ausstellungslisten und Abbildungen.
Darüberhinaus ist folgende Literatur
in Auswahl zu nennen: Willi Wolfradt
in: Das Kunstblatt, Dez. 1918. - Willi
Wolfradt in: Das Kunstblatt, Juni
1928. - Alfred Hentzen: Bildhauer der
Gegenwart, 1935. - Gerhard Händler:
Zeichnungen deutscher Bildhauer, 1943.
- Ulrich Gertz: Plastik der Gegenwart,
1953. - Karl Ludwig Skutsch: Joachim
Karsch - Zu Leben und Werk des
Bildhauers, Schlesien 2, 1956. -
Edouard Roditi: Joachim Karsch, 1967.
- Franz Roh: Deutsche Plastik von 1900
bis heute, 1963. - Waldemar Grzimek:
Deutsche Bildhauer des zwanzigsten
Jahrhunderts, 1969. - Kunst in
Schlesien - Künstler aus Schlesien.
Malerei, Graphik und Plastik. 20.
Jahrhundert, (Katalog) Würzburg 1985.
- Museum Ostdeutsche Galerie: Gang
durch die Sammlung 1992.
Bild: Selbstbildnis, 1929.
Idis B. Hartmann