Max Rudolf Lemberg
gehört zu den großen Biochemikern des
Jahrhunderts. Seine Forschungen galten den
fundamentalen Mechanismen des Lebens. Sie
waren bestimmt von einem tiefen
philosophischen und religiösen Denken, das
nach Ursprung und Sinn des Lebens fragte.
In seinem Testament sprach er davon, daß
"die Verbindung von Wissen und Liebe ...
der wichtigste Teil unserer Verpflichtung
und der Sinn unseres Erdendaseins" sei. Er
selbst bezeichnete sich als Chemiker,
Biochemiker und Suchender. Dieses Suchen
führte ihn schließlich auch vom Judentum
weg zu einem aufrichtigen, glühenden
Quäkertum.
Lemberg stammt aus einer jüdischen
Familie, die einst aus Lemberg nach
Breslau zugewandert war. Sein Vater Dr.
Arthur Lemberg brachte es bis zum
Justizrat. Rechtsgelehrte, Kaufleute aber
auch Naturwissenschaftler waren in der
Familie und der weiteren Verwandtschaft
nicht selten. Eine in den Kreisen des
liberalen jüdischen "Bildungsbürgertums"
verbreitete Gleichgültigkeit gegen die
jüdische Religion bei gleichzeitiger
äußerlicher Zugehörigkeit zur
israelitischen Religionsgemeinschaft galt
auch für die Lembergs. Die Tendenz zur
Assimilation fand Ausdruck in einer
christlichen Erziehung. Während seines
Kriegsdienstes in Frankreich konvertierte
Lemberg zum lutherischen Glauben. Der
Schulzeit am humanistischen
Johannes-Gymnasium in Breslau verdankte er
Charakterbildung und seine Liebe zur
deutschen Volksdichtung, jedoch kaum eine
tiefere naturwissenschaftliche Ausbildung.
Seine Interessen für die Natur wurden
durch einen Privatlehrer angeregt. Die
entscheidende Prägung verdankte er jedoch
der Jugendbewegung. In seiner Studienzeit
kam er in Kontakt mit der Sozialen
Arbeitsgemeinschaft, die sich die
Betreuung der Slumquartiere im Osten
Berlins zur Aufgabe gemacht hatte, und zur
Freideutschen Jugendbewegung, die
bedeutsamen Einfluß auf sein Leben gewann
und ihn sogar in Zweifel über den Sinn
einer wissenschaftlichen Karriere geraten
ließ. Er spürte, daß von der Wissenschaft
nicht die Antwort auf alle Probleme des
Lebens erwartet werden konnte, sie konnte
seinem Leben nicht die bestimmende
Richtung oder den letzten Sinn geben; sie
bedurfte einer Inbezugsetzung zu Religion
und Philosophie. Der Geist der
Jugendbewegung in der strikten Befolgung
selbstgewählter Werte führte bei Lemberg
schließlich zu einer Entwicklung weg vom
deutschen Idealismus zu einem religiös und
sozial motivierten Realismus.
Nach dem Abitur schrieb Lemberg sich an
der Universität Breslau für Chemie,
Physik, Mineralogie und Geologie ein. Bei
Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er
sich als Freiwilliger für ein
Artillerie-Regiment, wurde aus
gesundheitlichen Gründen jedoch erst 1917
eingezogen. Bei der Somme-Offensive im
März 1918 wurde er verwundet und mit dem
Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet.
Seine Kriegserfahrungen, insbesondere der
die Menschenwürde unterdrückende
militärische Drill, machten ihn zu einem
überzeugten Pazifisten.
Nach seinen Breslauer Semestern studierte
Lemberg 1915 und 1916 in München und
Heidelberg, um nach dem Krieg wieder nach
Breslau zurückzukehren. Eine spezifisch
biochemische oder nur solide Ausbildung in
Organischer Chemie hat Lemberg an von ihm
besuchten Universitäten nicht erhalten
können. Die grundlegenden Kenntnisse
seines damals noch in den Anfängen
stehenden Spezialfaches, der Biochemie,
hat er sich weitgehend selbst angeeignet.
Es ist so nicht verwunderlich, daß er
zeitweilig einen Wechsel zur Geologie
erwog. 1921 legte er seine bei Heinrich
Biltz gefertigte Dissertation über Neue
Abkömmlinge der Harnsäure-4.5-glykole
vor, die zugleich einen Beitrag zur
Kenntnis der reduzierenden Wirkung von
Phosphortribromid darstellte. Nach der
Promotion war Lemberg für zwei Jahre
privater Assistent bei Biltz, mit dem er
drei Aufsätze zur Wirkung der Harnsäure
vorlegte, entschied sich dann aber gegen
eine ungewisse akademische Karriere, die
er nach der Inflation und
Vermögenseinbußen des Vaters nicht mehr
glaubte finanzieren zu können, zumal sich
ihm wegen des verbreiteten Antisemitismus
zusätzliche Barrieren entgegenstellten. So
schien für ihn eine Zukunft in der
chemischen Industrie das Gebotene zu sein.
1923 nahm Lemberg eine Stelle bei einer
bedeutenden pharmazeutischen Firma in
Mannheim an.
Doch dieser Lebensabschnitt, in den auch
seine Heirat fiel, endete bald abrupt. In
der allgemeinen Rezession, die Deutschland
erfaßt hatte, wurde Lemberg als einer der
jüngsten Angestellten der Firma entlassen.
Mit Hilfe eines Stipendiums der
Notgemeinschaft für die Deutsche
Wissenschaft entschloß er sich zur
Habilitation. Er ging 1925 zurück nach
Heidelberg, wo inzwischen Karl
Freudenberg, Professor der Organischen
Chemie, das Chemische Institut leitete und
es rasch zu einem der leistungsfähigsten
in Deutschland ausbaute. Die moderne
Chemie mit ihren biochemischen und
physicochemischen Fragestellungen
bestimmten die Arbeiten des Instituts. So
kam Lemberg hier erstmals mit seinem
künftigen Arbeitsgebiet, dem Grenzbereich
zwischen Chemie und Biologie in Berührung.
Der intensive Austausch der Ideen und
Forschungsergebnisse, etwa mit Karl
Ziegler (dem späteren Nobelpreisträger),
Kautsky, Hieber und Werner Kuhn,
inspirierte auch Lemberg. 1930
habilitierte er sich mit einer Arbeit über
die Chromoproteide der roten und blauen
Algen, mit der er auch in die Kontroverse
zwischen O. Warburg und H. Wieland über
die Theorie der oxygenen bzw. hydrogenen
Aktivierung der Cytochrome eingriff.
Da keine reguläre Assistentenstelle am
Institut zu besetzen war, bewarb sich
Lemberg auf Empfehlung Freudenbergs um
eine Rockefeller Foundation Fellowship,
die ihm für ein Jahr die Arbeit am Sir
William Dunn Institute of Biochemistry
unter Gowland Hopkins in Cambridge
ermöglichte, wo er über Oocyan und
Uteroverdin arbeitete. Nach seiner
Rückkehr nach Heidelberg 1931 gelang ihm
als Privatdozent und Assistent am Institut
für Anorganische Chemie die synthetische
Herstellung des Farbstoffs Biliverdin. Er
galt damals als einer der wenigen Experten
auf dem Gebiet der Gallen-Pigmente.
Der entscheidende Einschnitt in Lembergs
Leben erfolgte durch die "Machtergreifung"
der Nationalsozialisten. Das "Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"
setzte seiner akademischen Karriere in
Deutschland ein abruptes Ende. Mit Hilfe
seines Lehrers Freudenberg und anderer
Heidelberger Kollegen gelang ihm die
Flucht nach England, wo er als Fellow des
Academic Assistance Council an sein altes
Institut in Cambridge zurückkehren konnte,
um seine Arbeiten im Hinblick auf eine
Systematisierung der verschiedenen
Gallenpigment-Klassen fortzuführen. Dieser
zweite kurze Aufenthalt in Cambridge wurde
für Lemberg wissenschaftlich wie
persönlich außerordentlich wichtig. Hier
wurde sein Interesse für die metabolischen
und funktionalen Aspekte der Chemie
geweckt und dadurch auch sein Wechsel von
der organischen Chemie zur Biochemie
vorbereitet. Die Freundschaft mit Quäkern
sollte auch seine Weltanschauung
nachhaltig beeinflussen. 1956 trat er der
Religious Society of Friends bei.
Da für Lembergs altes Forschungsgebiet der
Gallenpigmente in Cambridge kein großes
Interesse bestand, entschloß er sich 1935
notgedrungen, das Angebot anzunehmen, als
Direktor der biochemischen Laboratorien an
das Royal North Shore Hospital in Sydney
zu gehen. Für ihn bedeutete das nicht nur
den Verlust der reichen Kulturtradition
Europas, sondern in der australischen
"Wildnis" auch das Ende seiner
wissenschaftlichen Karriere in Kauf zu
nehmen, arbeitete er hier doch in beinahe
vollständiger Isolation. Mit selbst
konstruierten Geräten gelang es ihm
jedoch, hier seine Arbeiten über die
Gallenpigmente, unterbrochen durch
kriegsbedingte Forschungen zum
Stoffwechsel, abschließend
zusammenzufassen. 1949 erschien seine
große Monographie Haematin compounds
and pile pigments.
In der Folgezeit verbanden sich Lembergs
wissenschaftliche Forschungen über die
Grundlagen des Lebens und des menschlichen
Bewußtseins immer stärker auch mit
religiösen und philosophischen Fragen. Auf
diesem Gebiet lag seine Wirkung weniger in
eigenen originellen Beiträgen als in der
kritischen Bewertung fremder Forschungen,
die die entscheidenden zukunftweisenden
Ansätze ebenso herauspräparierte wie ihre
Irrwege und Fehldeutungen. Für Lemberg
selbst ließ sich Leben nicht auf einen
physico-chemischen Prozeß beschränken. Die
Komplexität der Organisation des Lebens
schien ihm darüber hinaus auf "mystische
Elemente" einer präexistenten Organisation
hinzudeuten. Gleichwohl lehnte er bloße
Spekulationen über den Ursprung des Lebens
als unwissenschaftlich ab.
Naturwissenschaftliche Erkenntnis und
philosophische Deutung bildeten für ihn
bei der Erklärung dieser Phänomene eine
notwendige Einheit. Seine James Backhouse
Memorial Lecture im Jahre 1966 überschrieb
er bezeichnenderweise mit "Seeking in an
age of imbalance". Sein großes soziales
Engagement galt besonders der Integration
nichtarischer Flüchtlinge in Australien.
Eine Summe seiner Forschungsarbeit legte
Lemberg noch einmal in seiner 1973
erschienenen zweiten großen Monographie
The cytochromes vor, die einen
umfassenden Forschungsbericht für die
Jahre 1949 bis 1972 über die Chemie der
Tetrapyrrole darstellt. Rudolf Lemberg
genoß in der wissenschaftlichen Welt
höchstes Ansehen. 1952 wurde er Fellow of
the Royal Society, 1954 Gründungsmitglied
der Australian Academy of Science. 1955
gründete er die Australian Biochemical
Society, deren erster Präsident er wurde.
Auch in Deutschland, wo die Mutter und
viele Verwandte in Konzentrationslagern
umkamen, wurden ihm akademische Ehren
zuteil. Den ihm 1946 angebotenen
Wiedereintritt in den Lehrkörper der
Universität Heidelberg lehnte er ab, doch
wurde ihm 1956 der Status eines
emeritierten Professors der Universität
Heidelberg zuerkannt. Dies und seine
gleichzeitige Wahl zum korrespondierenden
Mitglied der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften faßte er auch als Akt der
Wiedergutmachung auf.
Lit.: Max Rudolf Lemberg: Chemist,
biochemist, and seeker in three countries.
Ann. Rev. Biochem. 34 (1965), S. 1-20. -
Encounter with Rudi Lemberg. Privatdruck
1975. - C. Rimington und C.H. Gray: Max
Rudolf Lemberg. In: Biographical Memoirs
of Fellows of the Royal Society. Vol. 22,
London 1976, S. 257-294 (darin ein
umfassendes Werkverzeichnis). - Dorothee
Mußgnug: Die vertriebenen Heidelberger
Dozenten. Heidelberg 1988.
Bild: Universitätsarchiv
Heidelberg.
Udo Wennemuth