Becker, geb. Neumann”Christine Luise Amalie
Ich
leugne nicht, daß der Tod der Becker mir
sehr schmerzlich gewesen. Sie war mir in
mehr als einem Sinne lieb. Wenn sich
manchmal in mir die abgestorbene Lust,
für's Theater zu arbeiten, wieder regte,
so hatte ich sie gewiß vor Augen, und
meine Mädchen und Frauen bildeten sich
nach ihr und ihren Eigenschaften. Es kann
größere Talente geben, aber kein für mich
anmutigeres. ... Liebende haben Tränen und
Dichter Rhythmen zur Ehre der Toten; ich
wünschte, daß mir etwas zu ihrem Andenken
gelungen sein möchte.”
So
schrieb Goethe am 25. Oktober 1797 aus
Zürich an Karl August Böttiger, den
Direktor des Weimarer Gymnasiums. Die
Nachricht vom Tode Christiane Beckers
hatte den Dichter auf seiner Schweizer
Reise überrascht, ”in den formlosen
Gebirgen”, wie er es nannte. Das Gedicht
zu ihrem Andenken, die Elegie ”Euphrosyne”
(das ist ”Frohsinn”, eine der drei
Grazien), schrieb er im Juni 1798 nieder.
Es erschien zuerst im Musen-Almanach für
das Jahr 1799. Goethe hatte die ”geliebte
Person”, wie er Christiane Becker in einem
Brief an Carl Wigand Maximilian Jacobi,
einen Sohn des Schriftstellers und
Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi,
Freund des Dichters, vom 16. August 1799
nannte, zum letzten Male als Euphrosyne in
Joseph Weigls Oper Das Petermännchen
auf der Bühne gesehen.
Bildete
doch ein Dichter auch mich; und seine
Gesänge,
Ja,
sie vollenden an mir, was mir das Leben
versagt.
So läßt
sie Goethe in seiner Elegie sprechen.
Christiane Becker war ein
Schauspielerkind. Als Tochter des
Schauspielers Johann Christian Neumann
(1754-1791) und der Schauspielerin Johanne
Elisabethe Hütter (1752-1796) hatte sie
bereits als Fünfjährige in der Truppe
ihres Vaters in Venlo die Bühne betreten.
Nach Weimar kam sie 1784 mit ihren Eltern
zur Bellomo'schen
Schauspielergesellschaft, die das 1779 an
der Stelle des heutigen Deutschen
Nationaltheaters errichtete Komödienhaus
bespielte. 1787 trat sie dort zum ersten
Male auf. Die theaterbegeisterte
Herzogin-Mutter Anna Amalia nahm sich der
Erziehung des Kindes in mütterlicher
Fürsorge an, während die aus Guben
gebürtige Schauspielerin Corona Schröter
(1751-1802), die sich seinerzeit bereits
von der Bühne zurückgezogen hatte, sich
die geistige und erste künstlerische
Ausbildung des Mädchens angelegen sein
ließ. Im Mai 1791 kam es nach dem Abzug
der Bellomo'schen Truppe, die künstlerisch
nicht befriedigt hatte, zur Gründung eines
Weimarer Hoftheaters mit eigenem Ensemble.
Diesem verblieben als Grundstock ”von
jener abziehenden Gesellschaft
verdienstvolle Individuen”, wie Goethe,
der ”mit Vergnügen” die Leitung des
Theaters übernommen hatte, in seinen Tag-
und Jahresheften für 1791 notierte. Kurz
vor dem Wechsel war Vater Neumann
gestorben, ”ein sehr schätzbarer
Schauspieler”, wie Goethe an derselben
Stelle vermerkte, dessen ”vierzehnjährige
Tochter, das liebenswürdigste,
natürlichste Talent, ... mich um
Ausbildung anflehte.”
Schon
bald hatte sich die frühreife Christiane
Neumann unter Goethes Leitung zur ersten
Kraft des Hauses entwickelt. Nach kleinen
Rollen spielte sie unter anderem die
Ophelia in Shakespeares Hamlet, die
Amalia in Schillers Räubern, die
Luise in dessen Kabale und Liebe
sowie Emilia Galotti und Minna von
Barnhelm von Lessing. Die Begeisterung
ihres Publikums scheint allgemein gewesen
zu sein; auch Wieland und Iffland zählten
zu ihren Bewunderern. Sie war eine
zierliche blonde Erscheinung, eine
Darstellerin von großer Anmut und zarter,
klangvoller Stimme. Goethe sprach nach
ihrem Tode einmal (in einem Brief an
Wilhelm von Humboldt vom 16. Juli 1798)
von ”der schönen und angenehmen Becker.”
Darüber hinaus aber zeichneten sie ein
bedeutendes künstlerisches
Ausdrucksvermögen sowie als dessen
Voraussetzung eine starke Einbildungskraft
und eine starke Erregbarkeit aus.
In
dieser Hinsicht aufschlußreich ist eine
Begebenheit, die der Schauspieler Anton
Genast (geboren 1765 in Trachenberg in
Schlesien), der 1791 aus Prag an das
Weimarer Hoftheater berufen worden war, im
November 1791 in einer Notiz festhielt
(und die auch in Goethes Elegie
”Euphrosyne” einen starken Niederschlag
gefunden hat). Bei einer Hauptprobe zu
Shakespeares König Johann, an dem
Goethe ein besonderes Interesse hatte und
den er selbst in Szene setzte, zeigte ihm
Christiane Neumann als Arthur, der ihre
erste bedeutende Rolle war, nicht genug
Entsetzen vor dem glühenden Eisen in der
Hand des Darstellers des Hubert. Goethe
riß dem Schauspieler das Eisen aus der
Hand ”und stürzte mit solch grimmigem
Blick auf das Mädchen zu, daß dieses
entsetzt und zitternd zurückwich und
ohnmächtig zu Boden sank. Erschrocken
kniete nun Goethe zu ihr nieder, nahm sie
in seine Arme und rief nach Wasser. Als
sie die Augen wieder aufschlug, lächelte
sie ihm zu, küßte seine Hand und bot ihm
dann den Mund” Genasts Sohn Eduard
(geboren 1797 in Weimar), ebenfalls
Schauspieler, der diese Aufzeichnung in
seinem Erinnerungswerk mitteilte, sah
darin, der Deutung Goethes in ”Euphrosyne”
folgend, ”eine schöne und rührende
Offenbarung der väterlichen und kindlichen
Neigung beider zueinander.”
1793
heiratete Christiane Neumann den 14 Jahre
älteren Schauspieler Heinrich Becker
(eigentlich von Blumenthal) und brachte,
sechzehnjährig, eine Tochter zur Welt.
1795 verlor sie ihre Mutter an einem
auszehrenden Fieber. Ein Jahr später
schenkte sie abermals einer Tochter das
Leben. Von da ab kränkelte sie, wohl
infolge ihrer Mutterschaft und der
gleichzeitigen künstlerischen
Beanspruchung nervös und überreizt. 1797
erkrankte sie während der sommerlichen
Spielzeit des Weimarer Theaters in
Lauchstedt, dem Bade bei Merseburg, so
heftig, daß ihr Herzog Carl August seinen
bequemsten Reisewagen schickte, um sie
nach Weimar zurückzuholen. Doch hier
konnten ihr die eilig aus Jena
herbeigerufenen Ärzte Hufeland und Starke
nicht mehr helfen; sie starb an
Schwindsucht.
Christiane Beckers früher Tod erschütterte
die Weimarer Schauspieler wie ihr
Publikum. Auf dem Theater wurde ihr eine
Totenfeier ausgerichtet, deren Ertrag den
Grundstock für die Beschaffung eines
Denkmals bildete, das auf Goethes
Veranlassung hin nach einem Entwurf von
Johann Heinrich Meyer, seinem Berater in
Fragen der bildenden Kunst, von Friedrich
Wilhelm Döll in Gotha geschaffen wurde.
Geschmückt mit Masken und tanzenden
Nymphen, hat es hinter der auf dem
Hauptfriedhof gelegenen Fürstengruft, in
der Goethe und Schiller ruhen, seinen
Platz gefunden. Beigesetzt wurde die so
Verherrlichte auf dem Jakobsfriedhof.
Wenn
wir einem Eintrag Goethes in seinen Tag-
und Jahresheften für 1797 folgen dürfen,
hat die junge Frau ganz allgemein für das
Verhältnis des Dichters zur Theaterkunst
große Bedeutung gehabt: ”Auf dem Theater
fand ich die große Lücke; Christiane
Neumann fehlte, und doch war's der Platz
noch wo sie mir so viel Interesse
eingeflößt hatte. Ich war durch sie an die
Bretter gewöhnt, und so wendete ich nun
dem Ganzen zu, was ich ihr sonst fast
ausschließlich gewidmet hatte.” Noch in
späten Jahren hat Goethe (nach dem Zeugnis
Eckermanns in seinem Brief an Auguste
Kladzig vom 30. Januar 1829) bemerkt
(übrigens in Übereinstimmung mit einem
frühen Wort Ifflands): ”Es ist zu selten,
daß in jungen Mädchen der künstlerische
Sinn aufgeht und daß der künstlerische
Ernst in ihnen wirksam wird. In der ganzen
Reihe von Jahren, die ich dem Theater
vorstand, habe ich nur eine einzige
gefunden, der das Höhere lebendig ward und
an deren Entwicklung man Freude haben
konnte. Es war die Euphrosyne, ...
Quelle; ”
Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen
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